STUDENTEN
Der Herr mit der Fliege
03.08.1954, 13.00 Uhr • aus DER SPIEGEL 32/1954
Schwerwiegende Probleme, die Deutschlands studierende Jugend beschäftigen, sind am vorletzten Donnerstag vor dem Schiedsmann der Universität Marburg,
dem Universitätsrat und Landgerichtsdirektor Professor Dr. Lücken, zur Sprache gekommen.
Jungakademische Konflikte hatten sich an der Frage entzündet: Darf das Couleurband eines studentischen Corps als Fliege drapiert an Stelle einer Krawatte getragen werden?
Diese Übung hatte der Chemiestudent Reinhard Helmers, 24, im vergangenen Sommer eingeführt.
Helmers erstand damals in einem Marburger Kurzwarengeschäft, das solche Artikel feilbietet, ein Stück grün-weiß-blauen Bandes,
das gewöhnlich von den Angehörigen des Corps Hasso-Nassovia als Couleurband angelegt wird.
Der Student Reinhard Helmers formte aus dem Band eine Krawattenschleife und ergänzte seinen Anzug durch einen flachen Strohhut.
Das Tragen von Strohhüten stellt eine akademische Demonstration dar, seit Kieler Studenten vor zwei Jahren gegen öffentliches Farbentragen unter dem Motto protestierten:
» Trag'' dein Stroh auf dem Kopf!«
Mit Strohhut und grün-weiß-blauer Fliege spazierte Reinhard Helmers vornehmlich an den Wochenenden durch Marburg, wenn auch die Marburger Korporationen in Vollcouleur durch die Stadt flanierten.
Helmers ließ sich durch Anrempeleien nicht beeindrucken und besuchte Mitte Juli mit Fliege und Kreissäge das Strandfest auf den Lahnwiesen.
Kurz vor Mitternacht wurde er von einer Schar Couleurstudenten vom Corps Teutonia umringt und aufgefordert, die Fliege abzunehmen:
Sie gehöre ihm nicht.
Helmers fragte darauf, ob das heißen solle, daß er die Fliege gestohlen habe.
- Nein, darum gehe es nicht: »Es geht um den ideellen Inhalt der Fliege.« -
Helmers: »Das ist aber doch gerade meine Création.«
- Dies sei geschmacklos. -
Helmers: »Es gibt aber verschiedene Geschmäcker.«
Die Teutonen kündigten an, sie würden die Angelegenheit auf der Studentenvollversammlung zur Sprache bringen.
Damit war eine angemessene Plattform zur Entscheidung der Frage gefunden, ob eine Fliege aus grün-weiß-blauem Band einen ideellen Inhalt haben könne.
Diese Studentenvollversammlung fand am 21. Juli 1953 im Auditorium Maximum der Marburger Universität statt.
Der Saal war bereits von mehr als 400 Studenten besetzt, als etwas verspätet Helmers mit Kreissäge, obligater Fliege und einer Flasche Milch in der Hand erschien.
Im Protokoll dieser Versammlung heißt es: »Die Verhandlung der Tagesordnung wird anschließend durch eine Anfrage von Herrn Friedrichs *) unterbrochen.
Er wünscht Auskunft darüber zu erhalten, seit wann das Couleur-Tragen in der Studentenvollversammlung erlaubt sei.
(Herr Helmers trägt ein als ''Fliege'' drapiertes Couleurband des Corps Hasso-Nassovia.) ...
*) Student Friedrichs gehört zum Corps Teutonia.
Dieses Corps ist in Marburg besonders dadurch ausgezeichnet, daß Bundesminister a. D. Robert Lehr Alter Herr der Verbindung ist.
Das Corps Teutonia hat in der Nacht zu seinem Stiftungsfest das besondere Privileg, den weißen Schwan der Schwanenapotheke
und die Fußsteige der Oberstadt mit blauer, besonders dauerhafter Farbe beschmieren zu dürfen, ohne dafür wegen Sachbeschädigung zur Rechenschaft gezogen zu werden.
» Ein Antrag von Herrn Friedrichs, nach dem Herr Helmers die Fliege ablegen oder den Saal verlassen soll, kommt trotz längerer Diskussion nicht zur Abstimmung.
Der Universitätsälteste, Herr Schäfer, rügt aber das Verhalten von Herrn Helmers. «
Zur Abstimmung über die Fliege hatte es deswegen nicht kommen können, weil sich weder in der Hausordnung der Universität noch in der Verfassung der Studentenschaft
ein Passus finden ließ, nach dem jemand der Farbe seiner Kleidungsstücke wegen des Hauses verwiesen werden kann.
Drei Tage später besuchte Helmers mit seinem Freund stud. phil. Klaus Pretzer als Zuhörer die öffentliche Sitzung des Asta, des Allgemeinen Studenten-Ausschusses.
Diesmal hatte er die grün-weißblaue Fliege seinem Freund geliehen.
Kaum hatten beide Platz genommen, als Asta-Vorsitzender Peter Welter (Corps Hasso-Nassovia) die Sitzung unterbrach:
» Ich möchte den Herrn mit der Fliege auffordern, den Raum zu verlassen oder die Fliege abzunehmen.
Die Fliege ist ein original Hessen-Nassauer-Band ... Couleurtragen in der Universität ist verboten,
deshalb darf auch eine Fliege aus Couleurband nicht getragen werden. «
Als sich dann Helmers und sein Freund gegen den unberechtigten Vorwurf des Couleurtragens wehren wollten
während der Sitzung trugen fast alle anwesenden Korporationsstudenten ihren Bierzipfel aus Couleurband an der Uhrtasche),
meldete sich Asta-Mitglied Schanz (nichtkorporiert):
» Laut Asta-Geschäftsordnung muß darüber abgestimmt werden, ob Stimmen aus dem Publikum zu Gehör kommen.
Ich selbst bin dagegen. «
Die Abstimmung ergab, daß die Mehrheit dagegen war.
In der gleichen Sitzung beschloß der Asta, gegen Helmers ein Verfahren beim Ältestenrat zu beantragen. Das Verfahren ist aber nie eingeleitet worden.
Das Fliegen-Problem ruhte, ohne gelöst zu sein. Es kamen die Ferien und das Wintersemester.
Am 12. Juli 1954 aber ging Reinhard Helmers wieder mit Fliege und Kreissäge zu einem Bummel durch Würstchenbuden und Auto-Scooters auf das traditionelle Marburger Ketzerbachfest.
Gegen Mitternacht, als er schon auf dem Heimweg war, wurde er von cand. med. Heinz Thamer (Corps Westphalia) aufgefordert, die Fliege herauszugeben.
Als Helmers sich weigerte, griffen ihn Thamer und ein Dr. med. Karlheinz Lyndian an und versuchten, ihm die Hand auszudrehen.
Bis ein Polizist herbeieilen konnte, um den Arzt und die Corpsstudenten, die sich auf dem Rummelplatz wegen einer grün-weiß-blauen Fliege schlugen,
zu trennen, hatte Reinhard Helmers schon eine blutige Nase, eine zerplatzte Lippe und eine zerrissene Jacke.
Der Termin am vorletzten Donnerstag, zu dem der Schiedsmann der Universität Marburg, Landgerichtsdirektor Dr. Lücken,
die Studenten Helmers und Thamer geladen hatte, ging ohne eine gütliche Einigung zu Ende.
Am Montag letzter Woche schaltete sich aber eine weitere prominente Marburger Persönlichkeit in den Fliegen-Streit ein, der Professor für Strafrecht Dr. Karl Alfred Hall.
Hall bemühte sich, Helmers zu überreden, doch jetzt den Streit zu begraben und die Fliege als »großzügige Geste« dem Corps Hasso-Nassovia zu geben.
Als Helmers darauf nicht gleich einging, wurde er von Professor Hall am darauffolgenden Tag zum Mittagessen eingeladen.
Helmers:
» Ich wollte die Fliege ja erst nicht rausrücken.
Dann aber hat er sie mir doch noch aus der Nase gezogen.
Als er dann schließlich noch mitkam auf meine Bude, da bin ich weich geworden. «
Als Gegenleistung erhielt Helmers von Professor Hall eine handgeschriebene Erklärung folgenden Inhalts:
Auslegungen die anläßlich der Ubergabe des in Schleifenform gebundenen Bandes des Corps Hasso-Nassovia ausgeschlossen sein sollen:
1. daß Herr Helmers das Band gestohlen hat. - Er hat es vielmehr in einem Geschäft in Marburg erworben.
2. daß der Träger der Schleife eine geheime, nicht eingestandene Zuneigung zu den farbentragenden Corporationen verraten hätte,
3. daß die Ubergabe der Schleife ein Zeichen von Wankelmut und Reue sei,
4. daß Herr Helmers seine ablehnende Haltung gegenüber den farbentragenden Corporationen revidiert hätte.
Marburg a. d. Lahn, 27. Juli 1954.
gez. Dr. Karl Alfred Hall.
Gegen Dr. Lyndian - der eine Tätigkeit an der Universitäts-Klinik inzwischen unterbrochen hat und eine Arztvertretung bekam -
läuft nun noch ein Strafantrag wegen der Rummelplatzschlägerei.